Nicole Büsing, Heiko Klaas – über I·D·L                                                                       

 

Paula Godard trägt eine old school Irokesenfrisur. Ihre Vergangenheit als Hardcore-Punk in der Berliner Hausbesetzerszene sieht man ihr heute noch an. Das politische Engagement, die Verweigerungshaltung, und die kompromisslose Einstellung zum Leben sind geblieben. Paula Godard ist Künstlerin. Sie fertigt Aquarelle, denen Bilder aus dem Internet als Vorlage dienen: Fotos von Demonstrationen, Kriegsbilder, Grenzpatrouillen. Die Karriere von Paula Godard verläuft im Zickzack. Sie nahm an Gruppenausstellungen teil und ist in der Hamburger Off-Szene präsent. Die radikale No-Future-Haltung hat die gebürtige Berlinerin mittlerweile zu Gunsten eines kreativen Produktionsstroms abgelegt.

Paula Godard ist keine singuläre Figur. Sie ist Teil einer siebenköpfigen Künstlergruppe mit dem Namen „I·D·L“.

 

Der lautmalerische Name der Gruppe verweist nicht von ungefähr auf das Adjektiv „ideell“. Die Künstlerinnen der ausschließlich aus Frauen bestehenden Gruppe treten gemeinsam in Gruppenausstellungen auf. Wie viele vergleichbare Künstlervereinigungen arbeiten sie manchmal in Kooperation, betreiben eine gemeinsame Website, tauschen sich immer wieder gegenseitig aus und weben gleichzeitig an ihrer jeweiligen Solokarriere.

Eines jedoch unterscheidet I·D·Lvon anderen Künstlergruppen: Jede einzelne dieser Künstlerinnen ist eine Erfindung der Hamburger Künstlerin Sabine Kullenberg. Sie hat vor vierzehn Jahren sechs weibliche Künstleridentitäten erschaffen und unter dem Label I·D·L vereint. Gleichzeitig hat sie jede dieser Frauen mit einer ausgefeilten, aber immer imaginären, individuellen Biografie ausgestattet.

 

Die Bandbreite der Kunstrichtungen der sechs Alter Egos umfasst die unterschiedlichsten Strömungen: Mara Sand zelebriert Jahreszeitenfeste als einen Weg zur weiblichen Identitätsfindung. Anders Nora van Bettencourt , ihr Medium ist die Sprache. Sie beschäftigt sich mit Texten und Zeichensystemen, gesprochen, oder in Form von Wandtexten. In letzter Zeit konzentriert sie sich auf Wand- Tattoos, die Schlüsselbotschaften beinhalten.

 

Kollegin Anna Blooms Stichwort heißt „Energiearbeit“. Seit Jahren setzt sie sich mit der menschlichen Haut, ihren Alterungsprozessen und dem Prozess der Häutungen auseinander.

 

Cornelia Schmidt-Neutard hat sich das Kochen als Kunstform auf den Leib geschrieben. Sie inszeniert Essen. Engagiert, tatkräftig und freundschaftlich, versammelt sie während ihrer regelmäßig stattfindenden, salonartigen Kochevents Kunstfreunde zu artistischen Gaumengenüssen. Als Krönung und Label hat Schmidt-Neutard die Bewegung „Leckerleben“ initiiert.

 

Die Sechste im Bunde ist Claudia Valdèz, Sammlerin. Auch die seit 2005 bestehende Produktion der Wasserporträtsstützt sich auf diese Leidenschaft.

 

Künstlerin Nummer sieben im I·D·L-Zusammenhang ist Sabine Kullenberg selbst, die Erfinderin der sechs Prototypen. Zu jeder der sechs Identitäten gehören neben den produzierten und ausgestellten Arbeiten in unterschiedlichen Medien auch persönliche Gegenstände und Accessoires: Perücken, Parfüm, Briefe, E-Mail-Verkehr, individuelle Freundschaften und berufliche Kontakte. Alle Details der Kunstfiguren inklusive Werk und Biografie sind in sechs separaten Kaufverträgen festgehalten. Sabine Kullenberg hat den gesamten Komplex der Künstlergruppe I·D·Lzum Kauf angeboten. Mit Unterzeichnung der Kaufverträge wechselte I·D·L vor Kurzem den Besitzer.

 

 

 

Somit wurde die konzeptuelle Idee, eine in sieben Persönlichkeiten aufgefächerte Künstlerexistenz unabhängig von Marktgesetzen und -strategien konsequent weiterzuentwickeln und in verschiedenen Nischen des Kunstbetriebs zu verankern, zu einem Abschluss gebracht.

 

Die ursprünglich dem Projekt innewohnende Ironisierung und Unterlaufung des kommerziellen Kunstmarkts scheint dabei auf den ersten Blick geschickt widerlegt worden zu sein. Doch die Sache ist komplex: Sabine Kullenberg hat zwar die Identitäten und produzierten Werke, sprich: die materielle Anhäufung von I·D·L, verkauft und zur Weiterentwicklung frei gegeben. Dennoch behält sie sich auch nach dem Verkauf das Recht vor, die Kunstproduktion der Figuren weiter zu betreiben. Ein Deal, der Bedingungen vorgibt, Rechte einräumt und beiden Seiten auch weit reichende Pflichten auferlegt.

 

 

 

Der künstlerische Ansatz, den Sabine Kullenberg seit der Gründung der Gruppe I·D·L im Jahre 1994 verfolgt, geht von dem Grundmodell der Doppel-, oder in diesem Falle, Mehrfachidentität aus. Ähnliche Ansätze finden sich auch in der Literatur, in der Musik und im Film. Regisseure wie David Lynch entwerfen in hochkomplexen, psychologisierenden Erzählsträngen auf mehreren Ebenen Szenarien voller Doppelidentitäten, Fallstricke und Realitätsvermischungen. Jazzmusiker und Rockbands treten in unterschiedlichen Formationen und unter teils nur für eingefleischte Fans entschlüsselbaren Pseudonymen auf oder spielen unter wechselnden Namen Alben unterschiedlichster Stilrichtungen ein. Doppel- und Mehrfachidentitäten gibt es auch in der Literatur zuhauf: Ob in den Verwechslungskomödien von William Shakespeare, dem gruseligen Psycho-Klassiker Dr. Jeckyll und Mr. Hyde von Robert Louis Stevenson, dem romantischen Schauermärchen Der Sandmann von E.T.A. Hoffmann oder - als Beispiel der jüngeren Literatur - im teils autobiografischen  Roman „Leviathan“ von Paul Auster. Gerade hier gibt es eine direkte Verbindung zur Kunst: Der Romanfigur Maria Turner liegen die Rollenspiele und künstlerischen Strategien der französischen Konzeptkünstlerin Sophie Calle zu Grunde, die sich ihrerseits in späteren künstlerischen Arbeiten auf Paul Auster bezog.

 

Doch anders als bei den erfundenen Biografien und Geschichten der Figuren im Werk von Sophie Calle, die mit detektivischem Geschick den Blick auf absonderliche Alltagsbegebenheiten lenken, bricht Sabine Kullenberg vielmehr mit der Vorstellung vom Einzelkünstler als genialem Individuum. Während im Herbst 2008 die Staatlichen Museen zu Berlin in zehn Einzelausstellungen unter dem Label „Kult des Künstlers“ vermeintliche Ikonen von Beuys über Warhol bis Koons auf den Sockel heben, verteilt Sabine Kullenberg das Gewicht der Künstlerexistenz auf mehrere Schultern. Wie ein Oktopus, der seinen Körper von vielen schwungvollen Armen durchs Meer schaukeln lässt, oder eine vielköpfige Hydra hat sie sechs biografische Stränge entwickelt, die stellvertretend nicht nur für einen bestimmten Frauentyp, sondern auch für eine in der zeitgenössischen Kunst gängige Strömung stehen. Zusammen geben die I·D·L-Frauen kein homogenes, stromlinienförmiges Ganzes. Vielmehr hat Sabine Kullenberg in den letzten vierzehn Jahren kontinuierlich sechs teils widersprüchliche künstlerische Ansätze entwickelt und konsequent ausgebaut. Jede Erfolg versprechende Linie hat sie weiterverstärkt, Irrwege und Sackgassen auslaufen lassen, Brüche zugelassen und Widersprüche geschehen lassen. Bei öffentlichen Auftritten spielt Sabine Kullenberg bis heute mit Mitteln der Verschleierung von Identität und Autorenschaft: Sammler kauften Werke von I·D·L-Künstlerinnen, ohne den tatsächlichen Namen der Produzentin Sabine Kullenberg je gehört zu haben. Es gab kleine Fernsehauftritte, Ausstellungen, Eröffnungsreden mit in Nebensätzen formulierten vagen Andeutungen, Ausstellungsflyer, Kochperformances und Webblogs. An der Komplettierung der sechs Identitäten und der Kontinuität sämtlicher Œuvres hat Sabine Kullenberg stets gearbeitet. Auch nach dem Verkauf von I·D·L geht die Arbeit an und mit Biografien weiter - diesmal auf einer abstrakteren Ebene.

 

 

 

In seinem Buch Künstlerische Strategien des Fake: Kritik von Original und Fälschung analysiert der Kölner Künstler und Kunsthistoriker Stefan Römer die unterschiedlichen Ausprägungen der erst in der Postmoderne aufgekommenen künstlerischen Taktik des Vortäuschens, Erfindens und Simulierens. Römer:

            Der englische Begriff ‚fake‘ bedeutet im Deutschen ‚Fälschung‘, umfasst aber auch ‚Verschleierung‘, ‚Heucheln‘, oder Vortäuschen‘ und ‚Erfinden‘. Vor allem aber meint er nicht nur das kopierte Werk, sondern den gesamten institutionellen Prozess des Fälschens. […] Das augenzwinkernd implizierte konspirative Wissen um einen geschickten, witzigen Akt der Täuschung scheint ein ‚Fake‘ zu bezeichnen, während nach der Entschleierung eines Betrugs eher verurteilend von ‚Fälschung‘ die Rede ist.[1]

 

Sabine Kullenberg destilliert in ihrem Langzeitprojekt aus dem theoretisch unendlichen Repertoire künstlerischer Stile, Szenen und Subszenen sechs in der Wirklichkeit so durchaus vorstellbare kreative Individuen heraus. Sie orientiert sich dabei an gängigen biografischen Mustern, wie sie einem in der Szene immer wieder begegnen: die Intellektuelle, die Esoterikerin, die wirtschaftlich abgesicherte, brave Hausfrau, die in ihrer Freizeit „Kunst macht“, um nur einige Beispiele zu nennen. Anna Bloom, Paula Godard und die anderen sind in diesem Sinne biografische Fakes, denen allerdings kein konkretes Original mehr zu Grunde liegt, sondern eine Vielzahl von Sabine Kullenberg collagierter, biografischer Facetten. Sie sind ambivalente Kunstwesen in der Grauzone von plausiblen Alias-Existenzen Sabine Kullenbergs und ihren reinen Erfindungen. Die von ihnen produzierten Artefakte geraten dadurch in einen ebenso ambivalenten Bereich. Wenn Sabine Kullenberg letztendlich die performative Darstellung erfundener Künstlerinnen zu ihrer künstlerischen Strategie erklärt, was sind dann die diesen Künstlerinnen zugeordneten Werke? Ästhetisch einzigartige Originale? Oder nur Props oder Requisiten einer theatralen Aufführung? Dem gerade vom konservativ-bürgerlichen Kunstpublikum vergötterten Fetisch Original jedenfalls zieht sie zumindest die Reißzähne. Die abschließende Beantwortung solcher Fragen aber überlässt Sabine Kullenberg letztlich den Rezipienten.

 

Mit ihrer Arbeit stellt sie gängige Mechanismen des Kunstbetriebs und der Kunstvermarktung zur Disposition. Einerseits legt sie falsche Fährten, indem sie Fiktives realistisch erscheinen lässt – bis hin zum kostümierten Auftritt in der Rolle einer Anderen. Gerade dieser Aspekt ihrer Arbeit zeichnet sich auch durch durchaus humorvolle und parodistische Strategien des performativen Rollenspiels im Feld eines von vielen Eitelkeiten, Konkurrenzsituationen und Selbstprofilierungstendenzen geprägten Kunstbetriebs aus. Andererseits macht sie, wie anlässlich der Bremer Ausstellung „Prototypisieren. Eine Messe für Theorie und Kunst“ genau diese Strategie wieder öffentlich und transparent. Sabine Kullenbergs Arbeit entfaltet somit in unterschiedlichen Kontexten auch ganz unterschiedliche Wirkungen.

 

Eine ähnliche Strategie der Erfindung bis zu einem gewissen Grade plausibel und authentisch erscheinender Fake-Künstler verfolgte auch der belgische Konzept- und Installationskünstler Guillaume Bijl mit seiner Arbeit Four American Artists (1987). Bijl zeigte eine Gruppenausstellung mit den von ihm selbst erfundenen Werken vier angeblich trendiger amerikanischer Jungkünstler. In einem Katalog legte er falsche biografische Fährten. In einem anderen klärte er das Publikum über seine künstlerische Strategie der Offenlegung von Konsumgewohnheiten und Vermarktungsstrategien im Kunstbetrieb auf. „Ich akzentuiere die Prototypen, die in der Gesellschaft vorhanden sind, um zu demonstrieren, wie hoch der Grad an vorprogrammierten Mustern in der heutigen Zeit ist“,[2] sagte Bijl zu dieser Arbeit.

 

Sabine Kullenbergs Strategie, eine fiktive Künstlerinnengruppe über einen langen Zeitraum von vierzehn Jahren immer wieder neu zu erfinden und weiterzuentwickeln, ist im Gegensatz zu Bijls eher punktueller und auf die Dauer der Ausstellung begrenzter Setzung mit einem wesentlich höheren Maß an unmittelbarer Involviertheit verbunden. Sabine Kullenberg war Anna Bloom, Paula Godard und die anderen. Die lange Dauer des Projekts gab ihr die Möglichkeit, ihre konstruierten Künstlerinnenbiografien immer wieder neu zu akzentuieren, sie gewissermaßen durch „Fine-Tuning“ an den herrschenden Zeitgeist sowohl der Hoch- als auch der jeweiligen Subkultur anzupassen, sie glaubhafter oder lebendiger zu machen. Sabine Kullenbergs Projekt I·D·Lbot seiner Erfinderin einerseits die Möglichkeit, sich im Spiel mit ganz unterschiedlichen Rollen selbst zu stilisieren, andererseits aber auch gängige Klischees weiblicher künstlerischer Arbeit durch das Mittel der parodierenden Übertreibung offen zu legen. Durch den Verkauf von I·D·L an einen Sammler werden die Karten nun vollkommen neu gemischt.

 

Literaturliste

 

Römer, Stefan: Künstlerische Strategien des Fake: Kritik von Original und Fälschung. Köln (DuMont Buchverlag) 2001]


[1] Stefan Römer: Künstlerische Strategien des Fake: Kritik von Original und Fälschung, Köln (DuMont Buchverlag) 2001, 14.

[2] Römer, Künstlerische Strategien des Fake, 226.